Bettina Sellmanns Malerei oszilliert zwischen der Periode des Barock/Rokoko und der Gegenwart. Sie aktualisiert die Ästhetik des Barocks und Rokokos, indem sie Manga-Ästhetik einbezieht und damit kulturelle, geschlechtsspezifische und soziale Normen sowie die Konventionen der Kunstgeschichte herausfordert.
Die Barockzeit – eine Periode, in der der äußeren Erscheinung und dem Repräsentieren größte Bedeutung zugemessen wurde – weist große Parallelen auf zum heutigen Diktat der Selbstoptimierung im Leben und in den sozialen Medien. Die kulturellen Marker des Barocks erscheinen in Sellmanns Arbeit als Metaphern für die Gegenwart.
Die kunstgeschichtlichen Konventionen nutzt sie jedoch dazu, die dargestellten Individuen in durchsichtigen Farbverläufen intensiver Farbigkeit aufzulösen. Es entstehen in farbige Explosionen getauchte, durchscheinende Negativbilder. Ihre Bilder sind „durchsichtige Versionen“ alter Meister, wie es Ann Wilson Lloyd (vom Massachusetts College of Art and Design in Boston) definiert: “Inspired by art historical imagery, Bettina Sellmann creates ‘see-through versions’ of Old Master paintings.” * Was dabei sichtbar wird, sind die Zerbrechlichkeit der äußeren Erscheinungen sowie eine innere Verletzlichkeit der Subjekte. Authentizität entsteht durch die Enthüllung der Fiktion. Perfekte Oberflächen zerfließen und verwandeln sich auf der Suche nach einer scheinbaren Essenz. Vielleicht liegt die Essenz gerade in ihrer Auflösung.
Oft fusioniert Sellmann die Formensprache des Barocks mit einer Kidult- und Kawaii-inspirierten Bildsprache. Die omnipräsente Kidult- und Manga-Kultur speist sich vor allem aus unserer Suche nach Unschuld und Ursprünglichkeit. Und auch hier ist alles Fiktion: Unter den kapitalistischen Produktionsbedingungen werden Kindlichkeit und propagierte Unschuld zur Schablone und verkehren sich in ihr Gegenteil – manipulative Strategien zum Verkauf von Produkten.
Dieser Aspekt wird in der bildenden Kunst oft ironisch adaptiert oder persifliert. Das beunruhigende Moment von Sellmanns Arbeit ist jedoch, dass sie sich keiner erlösenden Ironie bedient. Dies ist für sie eine neue Wendung in der Tradition des (exklusiv männlichen) „Bad Painting“ der 1980er/1990er Jahre. Ging es in dieser Strömung darum, so viele Tabus wie möglich zu brechen, so war doch das Tabu des „Niedlichen“ oder gar „Weiblichen“ immer aufrechterhalten worden – ein Widerspruch, der für sie immer in eklatantem Widerspruch stand zum proklamierten Freiheitsbestreben der Bewegung. So begreift sie ihre Position nicht zuletzt als ein „Bad Painting“ 2.0 – ganz im Sinne Annekathrin Kohouts, wenn diese von „Cute Empowerment“ spricht, durch das frühere Stereotypen in Frage gestellt werden.
Bettina Sellmann benutzt bewusst die Ästhetik pastellfarbener Barock- oder Kawaii-Figuren, die bisher einer klischeehaften und diskriminierenden Zuschreibung dienten und macht durch diese Affirmation Vorurteile transparent. Die Verschiebung der Perspektive macht das Unwahrscheinliche glaubwürdig und stellt zur Diskussion: Wie sehr kann man das Süß-Elegante ausreizen, ohne sich der Ironie zu bedienen? Inwieweit kann das Süße Bedeutung transportieren und gleichzeitig süß bleiben? Inwieweit kann das Süße kritisch sein, ohne aufzuhören süß zu sein?
Sellmanns Malerei testet so die gängigen Parameter der Wahrnehmung zeitgenössischer Ästhetik und Kunst.
*Ann Wilson Lloyd, in: Figuratively Seeing, editors Darci Hanna and Chloe Zaug, text by Ann Wilson Lloyd, Massachusetts College of Art and Design, Boston, MA, USA, 2009, Seite 58.